Heute habe ich dem – zugegeben nettesten – Anzeigenverkäufer unserer Raumschaft doch tatsächlich vorgeworfen, dank seiner Verlagsgruppe sei das journalistische Niveau, auf dem über unsere schöne Gegend berichtet wird, mittlerweile auf das Kasachstans gesunken. Das war natürlich unfair – Mediaberater haben denkbar wenig Einfluss auf die Redaktionen und noch weniger auf die publizistische Ausrichtung ihres Verlages. Zudem ist es doch gerade dieser Verlagsgruppe zu danken, dass es überhaupt noch bezahlte Journalisten und Fotografen in – und Berichterstattung aus – Nordhessen gibt. Wie es in Kasachstan aussieht, ob es da nur Tageszeitungen oder bereits Anzeigenblätter gibt, weiß ohnehin kein Mensch. Also: Asche auf mein Haupt!
Als öffentliche Bußübung sozusagen, greife ich mir zur Widerlegung meiner dummen Behauptung also ein regionales Leitmedium, das in Kassel erscheinende Anzeigenblatt „ExtraTIP“. Nicht irgendeine Ausgabe meiner Wahl, nein, der Fairness halber einfach die Ausgabe vom letzten Sonntag: Ein stolzes, 860 Gramm schweres Konvolut, gewichtiger als Frank Schätzings Schwarm, wurde mir da wieder (wie jeden Sonntag) geschenkt und unaufgefordert kostenlos in meine Zeitungsrolle expediert. Gewichtsmäßig, diese Spitze sei erlaubt, nehmen wir es hier in Nordhessen locker mit einem Hungerhaken wie z.B. dem Münchner Merkur auf.
Das Hauptgewicht des „ExtraTIP“, das zeigt meine Küchenwaage, liegt mit 88% des Gesamtgewichts definitiv im Bereich der lokalen Wirtschaftsförderung. Diese Woche stehen gleich 22 regionale Unternehmen in der besonderen Gunst des Verlages. Ihre Offerten, benutzerfreundlich in den Innenteil eingelegt, sind aktuell, bunt und von höchster Papierqualität. 750 Gramm Wirtschaftsförderung auf weit über 500 Seiten! Gratis und zuverlässig jeden Sonntag zu mir an den Waldrand getragen. Ich bin schwer beeindruckt.
Schon dieser quantitative Befund straft mich Lügen: Mir ist kein anderer Verlag bekannt, der sich so überaus vortrefflich, nachwiegbar und alternativlos zum Wohle der regionalen Wirtschaft positioniert hat. Vermutlich hat in ganz Kasachstan kein vergleichbares Verlagshaus je zu solcher Vollendung gefunden, dass es – wie bei uns in Nordhessen – schlicht keiner Wettbewerbsjournaille mehr bedarf.
Aufgeregt greife ich nun zu den Mantelseiten meines ExtraTip, dort wo man als Leser üblicherweise Redaktion vermutet. Die vortreffliche Titelgeschichte über einen rollenden Bioladen – mit einem lustigen Farbfoto illustriert – bringt die wichtigste Geschichte der Woche auf die Länge einer SMS. Grandios! Entlang weiterer der Wirtschaftsförderung gewidmeten Flächen gleitet mein Blick in den Innenteil.
Überhaupt zur Interpretation dessen anzuheben, was sich auf der nunmehr vor mir ausgebreiteten Doppelseite darbietet, erscheint reichlich anmaßend. Fehlte nicht ausgerechnet in dieser Ausgabe der gewohnte, jederzeit weltkluge „Briefwechsel“ von Chefredakteur Rainer Hahne, Nordhessens einzigem journalistischen Schwergewicht, hätte allein diese Doppelseite einen ganzen Reigen medienwissenschaftlicher Dissertationen verdient!
Auf der linken Zwei findet sich, trefflich getarnt hinter der Überschrift Meinung/Lokales, nicht weniger als die Essenz eines erwachsenen Feuilleton: Horoskop, Weltanschauliches („Treu oder angepasst?“), Weltbewegendes („Hofbesitzer baute „Gras“ an“), oft wunderbar unauffällig vermischt mit anbiedernder Gefälligkeitsredaktion. Unwillkürlich fragt man sich angesichts dieser Pracht, wofür die Intellektuellentruppe von der F.A.S. eigentlich jeden Sonntag eine fußballfeldgroße Fläche braucht. Doch ich will nicht länger schwelgen, zurück zu den Fakten.
Der heimliche Höhepunkt meines Sonntags ist die dritte Seite. Denn für uns Nordhessen erübrigen sich auch Gala und Country Living – wir haben Seite 3 in unserem ExtraTip! Unter der Überschrift „Nordhessen privat“ findet sich hier alles, was in Kassel in den letzten 10 Tagen von öffentlichem Interesse sein wollte. Diese Dritte ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein verlegerisches Bravourstück! Einerseits enthält man sich jeder Wertung: Zum Nordhessen-Promi wird, wer auf einer Veranstaltung in Kassel zwischen Regionalmanager Holger Schach und einen der ExtraTip-Fotografen um Harry Soremski gerät und nicht schnell genug aus dem Motiv springt. Oder sich – mit einer der heute üblichen lässigen Handbewegungen – offensiv hineindrängt. Konfliktträchtiges, Meinung überhaupt, wird hier verständlicherweise gemieden. Zugleich ist dieser visuelle Journalismus eine Paradebeispiel für Effizienz. Fotografiert man oft genug auch alle wichtigen Politiker, erspart man sich viele lästige Vor-Ort-Termine, das öde Geschreibe über das ganze Gerede und all die widerständigen Inhalte auf die sowieso keiner Lust hat. Chapeau!
Da mir beim dem ganzen Schreiben und Wiegen nun ohnehin mehrere Ausgaben vollends durcheinander geraten sind, sei versichert, dass man sich ab Seite 4 wieder dem überbordenden Mitteilungsbedürfnis der regionalen Ökonomie beugt. Und, um nicht meinerseits in den Verdacht der Lohnschreiberei zu geraten: Überschlägig, das kann man dem Verlag natürlich zum Vorwurf machen, werden immer noch mindestens 5% der bedruckten Fläche redaktionell ver(sch)wendet, scheinbar ohne den geringsten Beitrag zur Wertschöpfung zu leisten. Hier, lieber ET-Geschäftsführer Daniel Schöningh, verbergen sich gewiss noch ungehobene Erträge.
Abspann: Manchmal muss man den Dingen mit der geeigneten Waage begegnen, statt sich in vertrauten Vorurteilen zu bestätigen. Gelegentlich wird dann noch viel deutlicher wie wortsinnig verrückt die Verhältnisse sind bzw. geworden sind. Trotzdem weiß man nicht immer genau, was nun Realität und was Satire ist. In diesem Sinne verbeugt sich dieser Text ausdrücklich vor Rüdiger Kreissl (gest. 2005, „Alle tippen für Ippen“) und Jan Böhmermann (für die wunderbare Verwirrung um das Stinkefinger-Video). Rainer Hahne, Nordhessens vitalster Lautsprecher, bekommt, versprochen, an anderer Stelle sein Fett weg.