Nordhessen

[vc_row][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]masNordhessen ist fürwahr ein Traum

Nordhessen ist vor allem eine wunderschöne deutsche Hügellandschaft entlang der Flußtäler von Eder, Fulda und Werra. Obschon seit der deutschen Einheit tatsächlich im Herzen Deutschlands gelegen, mangelt es Nordhessen mit seinem Oberzentrum Kassel gleichermaßen an Selbstbewusstsein wie an eigener Wirtschafskraft. Subjektiv kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass vieles vorbei geht an Nordhessen.

Ideen- und Innovationsregion Nordhessen
Die „Region Nordhessen“, so die Arbeitsthese des Autors, gibt es derzeit als solche nicht. Vielmehr scheint es, als würde von Kassel aus eine Idee der „Region Nordhessen“ propagiert, die im mitgemeinten Umland nicht ankommt oder kaum Resonanz findet. Die vom Regionalmanagement ausgegebene Selbstdefinition Nordhessens als „eine der attraktivsten europäischen Ideen- und Innovationsregionen“ stützt meine These – geht sie doch so krass an der gefühlten Realität, aber auch an allen Daten, Zahlen und Fakten vorbei, dass sich der Gedanke vom Selbstbetrug als Innovationshemmnis geradezu aufdrängt.

Das ist bedauerlich, denn funktionierende regionale respektive lokale Identitäten, das ist vermutlich unstrittig, sind im europäischen, letztlich globalen Wettbewerb von Bedeutung und ggfs. von großem Vorteil. Sie stärken das „Wir“ nach innen und profilieren spezifische Eigenschaften einer Raumschaft nach aussen.

Wir können alles. Außer Hochdeutsch.
Als Beispiel fast zu perfekt um wahr zu sein, ist die jüngste Kampagne Baden-Württembergs „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Die feine Ironie dieser Kampagne ist ohne ein robustes, konsensfähiges, mit Identität und Lebensgefühl der Bürger korrespondierendes Selbstbewusstsein schlicht nicht denkbar. Zugleich war die Kampagne genial integrativ, überwindet sie doch (1) spielerisch die letzte Innengrenze Baden-Württembergs, die Sprachgrenze zwischen Alemannen und Schwaben, und grenzt (2) wann und von wo auch immer zugewanderte Neubürger widerstandsfrei ein.

Dem neuen kollektiven Selbstbewusstsein der Baden-Württemberger, das hier zum Ausdruck kommt, ging allerdings ein schmerzhafter Diskurs, scheinbar um den Stuttgarter Bahnhof, tatsächlich um die Deutungshoheit der überheblich konservativen Landes-CDU voraus.  Die Baden-Württemberger haben sich dabei nicht nur auf ein neues „Wir“ verständigt, sondern bei der Landtagswahl 2011 auch einer grün-roten Landesregierung unter Winfried Kretschmann die Konkretisierung des Wandels anvertraut.

Kein kollektives „Wir“ ohne Diskurs
Voraussetzung wirkmächtiger kollektiver Identität, so beschreibt es der Politologe Michale Weigl von der LMU München, ist der “Selbstverständigunsprozess eines Kollektivs in Form eines öffentlichen Diskurses”. Auch vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff „Region Nordhessen“ kaum mehr als eine Phrase. Nordhessen gibt es (noch immer) nicht, weil die Region (noch) nicht zu sich gefunden und über sich selbst verständigt hat.

Documtenta und „ahle Wurst“ sind zu wenig
Alle 5 Jahre documenta, dazwischen Brüder Grimm, VW, Braun Melsungen, SMA, viel Wald und „ahle Wurst“, oder was auch immer von Lokalpatrioten an dieser Stelle angeführt werden mag,  sind prima.  Sie bergen allerdings  viel zu wenig Identitätsstiftendes, um ein Regionalgefühl zu initiieren oder den notwendigen Diskurs der dem „Wir“ zwingend vorausgeht, gar zu ersetzen. Das ist zunächst nicht einmal irgendeinem Politikversagen oder gar schlechtem (Regional-)Management zuzuschreiben, sondern einem (dem Autor bis heute völlig unverständlichen) Desinteresse der „Nordhessen“ füreinander und untereinander zuzuschreiben.

These: Die Nordhessen kennen sich nicht
Ich habe diese Arbeitsthese in der letzen Zeit in unterschiedlichen Varianten häufiger vorgetragen – die Reaktionen haben mich ermutigt. Es widerspricht mir z.B. niemand, wenn ich vermute, dass 90% der Korbacher noch nie in im 100 Kilometer entfernten Eschwege waren und umgekehrt kaum jemand aus dem Werra-Meißner-Kreis je in Korbach. Das wunderbare mittelalterliche Kaiserfest um den Fritzlarer Dom wird bereits im nahen Kassel genauso ignoriert, wie das lustige Fressfest der Melsunger („Nordhessen geschmackvoll“) – obwohl man beide Städte bequem mit der Regionalbahn erreichen könnte. Ebenso der Arolser Kram- und Viehmarkt, der heimlich Höhepunkt im Kalender eines Waldeckers, das Open-Flair in Eschwege oder Lullusfest und die beachtlichen Festspiele in Bad Hersfeld.

So  strebt dieser reichlich eigenartige Text also nicht weniger an, als im besten foucaultschen Sinne zunächst ein wenig Ordnung in den Diskurs um unsere Region zu bringen. Wie immer bei solchen „Grabungsarbeiten“ sind die Funde zu Beginn weder geborgen noch interpretiert. Aber das gerade ist ja das Spannende dieser Art „politikwissenschaftlicher Regionalarchäologie“.[/vc_column_text][vc_accordion][vc_accordion_tab title=“ Einleitende Hinweise des Autors“][vc_column_text]Dieser Text entsteht derzeit quasi live vor Ihren Augen, liebe Leser.  Insofern ist er zwingend unvollständig, unausgewogen, ungerecht, nicht zu Ende recherchiert – und auch noch nicht fehlerfrei.  Kommentare, Kritik, Hinweise, Tipps usw. richten Sie daher einstweilen direkt an den Verfasser.  Zugleich ist der Text „mehrdimensional“ angelegt: Vertiefende Hintergrundinformationen, ohne die der Text ebenso verstanden werden kann, auf die der Autor allerdings nicht verzichten wollte, erhalten Sie mit einem Klick auf das eingeblendete “Akkordion”.[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][vc_accordion_tab title=“Regionale Identität und Politikforschung“][vc_column_text]Dr. Michael Weigl von der LMU München verweist im Kontext (s)einer Suche nach dem “bayrischen Bewusstsein” auf den Unterschied zwischen personaler “Identität” und kollektivem, ggfs. regionalem “Bewusstsein”.

Zur Konstitution der eigenen Persönlichkeit bedient sich jeder Mensch, um es salopp zu sagen, aus einer Vielzahl konkurrierender Identitätsangebote, er sucht sich Vorbilder und definiert sich selbst im Verhältnis zu Gesellschaft.

“Kollektive Identität” hingegen erfordert zwingend einen “Selbstverständigunsprozess eines Kollektivs in Form eines öffentlichen Diskurses”. 

Im Idealfall bieten dabei unterschiedliche Diskussionsträger (z.B. Politiker, Journalisten, Historiker, Soziologen,  Künstler, Regionalmanager, Touristiker) “Identitätsangebote” an, die die “Diskursrezipienten” (er meint damit alle Zuhörer, Mitdenker, Widersprecher) wiederum selektiv in ihre personale Identität einbauen – oder auch nicht.  Die Konsequenz: Kollektive regionale Identität ist ohne konsensfähiges Regionalbewusstsein in der Bevölkerung schlicht unmöglich.

Wie komplex dieser Prozess vermutlich ist, veranschaulicht die Darstellung “Das Identitätoktagon – regional umbrochen”.

Identitätsoktagon, Dr. Michael Weigl, LMU München, 2008.
Identitätsoktagon, Dr. Michael Weigl, LMU München, 2008.

>>> Dr. Micheal Weigl, Was bedeutet Identität – wie entsteht regionale Identität?, CAP 2008.[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][/vc_accordion][vc_column_text]Von Kurhessen über Hessen-Nassau nach Nordhessen

Grenzen wir also zunächst die Raumschaft ein – um alsdann wenigstens die letzen 200 Jahre wechselvoller deutscher Geschichte in Nordhessen genauer zu betrachten – und sie dabei nach historischen Identitätsquellen zu durchleuchten .

Dem Geographentag 1973 in Kassel (und Wikipedia-Autor Maximilian Dörrbecker) verdanken wir eine überaus anschauliche Darstellung Norhessens “unter Berücksichtigung von kulturräumlichen Gegebenheiten”.

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Abb: Nordhessen, Geographentag 1973, Kassel. Grafik: M. Dörrbecker.

Diese Karte zeigt auch das “gefühlten Nordhessen”  trennscharf in den heutigen Landesgrenzen Hessens, lediglich die Abgenzung nach Mittelhessen entspricht nicht ganz der administrativen Gliederung seit den Gebietsreformen in den 1970er Jahren. Sie zeigt also vor allem was Nordhessen nicht sind: Keine Sauerländer, keine Niedersachsen , keine Thüringer, weder Mittel- noch gar Südhessen. Die katholische Enklave um die Bischofsstadt Fulda bildet bis heute einen eigenen Kulturraum und gehört lediglich administrativ zum Regierungsbezirk Nordhessen.

Die heutige Geographie Nordhessens ist bereits in den Umrissen des Kurfürstentums Hessen (“Kurhessen”, 1814-1866) deutlich zu erkennen. Der Wiener Kongress (1815) versagte Kurfürst Wilhelm I. allerdings den angestrebten Titel “König der Chatten”.

Nach dem Deutschen Krieg 1866 von Preußen annektiert, lag Nordhessen bis 1945 fast ein Jahrhundert “janz weit draußen”, genauer in der preußischen Provinz Hessen-Nassau.

Zugleich ist die Darstellung geradezu ahistorisch. Das stolze Fürstentum Waldeck-Pyrmont, immerhin bis 1918 Monarchie und von 1919-1929 Freistaat der Weimarer Republik scheint hier als Landkreis Waldeck-Frankenberg widerspruchsfrei im Kulturraum Nordhessen aufgegangen. Dem historisch gewachsenen besonderen Selbstbewusstsein der Waldecker, auch in deutlicher Abgrenzung zu den Kasselern, wird sie nicht gerecht.[/vc_column_text][vc_accordion][vc_accordion_tab title=“ Kurhessen zwischen 1815 und 1945″][vc_column_text]Bereits ein erster Blick zurück in die Geschichte der deutschen Kleinstaaterei (und auf diese Karte des Deutschen Bundes von 1815) scheint meine These zu widerlegen! Die Umrisse Nordhessens sind bereits 1815 deutlich zu erkennen.

kulturraum_nordhessen_deutscher-bund_1815

Westlich wie östlich grenzt das Kurfürstentum Hessen zwischen 1815-1866  an Preußen,  Südniedersachsen (die Region um Göttingen)  gehört zu dieser Zeit zum Königreich Hannover.

Den Titel eines  “Königs der Chatten” (eines germanischen Stammes, deren Nachkommen seit der Völkerwanderung auch in den Flußtälern von Fulda und Eder siedelten) vermochte Kurfürst Wilhelm I.  auf dem Wiener Kongress 1815 nicht durchzusetzen. Ob dieser Titel jene Art von Identitätskern gestiftet hätte, von dem andere Regionen bis in unsere Tage zehren, bleibt Spekulation.

Im Deutschen Krieg 1866 stand Kurhessen auf Seiten Österreichs – und damit der Verlierer.  Kurhessen wurde 1866 besetzt und annektiert. Fortan gehörte Nordhessen zur preußischen Provinz Hessen-Nassau und ging als solche erst 1945 im neu gegründeten Bundesland Groß-Hessen (ab 1946: Hessen), auf.

Deutlich zu erkennen auch das im Westen gelegene Fürstentum Waldeck-Pyrmont, dessen historische Wurzeln bis ins Jahr 1349 zurückreichen. Anders als Kurhessen stand Waldeck-Pyrmont im Deutschen Krieg auf der Seite Preußens und entging der Annektion. Waldeck-Pyrmont blieb bis Ende des Ersten Weltkrieges eine Monarchie, war von 1919 bis 1929 Freistaat innerhalb der Weimarer Republik und ging erst 1929 in Preußen auf. Das besondere Selbstbewusstsein der “Waldecker”, auch in deutlicher Abgrenzung zu den “Kasslern”, dauert bis heute fort. Auch dazu an anderer Stelle mehr.[/vc_column_text][/vc_accordion_tab][/vc_accordion][vc_column_text]Nordhessen 1933 – 1943 – 1945

Die NS-Geschichte Nordhessens,  im NS-Jargon nun „Gau Kurhessen“ genannt, ist so beschämend, wie andernorts auch.  Die Gestapo begann von Kassel aus zunächst Andersdenkende im ganzen Regierungsbezirk zu terrorisieren.  Im KZ Breitenau (Guxhagen) waren in den wenigen Monaten zwischen Machtegreifung und der KZ-Schließung im März 1934 nachweislich 470 politische Gefangene inhaftiert, die aus 139 hessischen Gemeinden stammten.

Im Rahmen der Novemberpogrome wurden bereits am 7.11.1939 – zwei Tage vor der reichsweiten Pogromnacht vom vom 9. auf den 10. November 1938 – die Synagoge in Kassel und das jüdisch-orthodoxe Gemeindezentrum geschändet. Drei von der Kasseler Gestapo organisierte Juden-Deportationen sind für 1941/42  nachgewiesen. Am 7. September 1942 wurden die letzten 55 Eschweger Juden mit einem Sonderzug der Reichsbahn ins Gas geschickt.

Zur historischen Wahrheit gehört jedoch auch:  Machtergreifung, Propagandawirtschaft und Kriegsvorbereitung führten in den Anfangsjahren des Regimes zu einem beachtlichen Aufschwung. Kassels historische Industriegebiete, verkehrsgünstig und fern künftiger Fronten im Zentrum des Reiches gelegen, gewannen an Bedeutung für die Kriegsrüstung. Auch der Autobahnbau südlich und westlich von Kassel schuf kurzfristig viele neue Arbeitsplätze. Die Stadt wuchs in der NS-Zeit zum Industriezentrum und verzeichnete bei Kriegsausbruch stolze 217.000 Einwohner. Eine Einwohnerzahl übrigens, die Kassel bis heute nicht wieder erreicht hat.

Selbst der Krieg schien zunächst ein Leichtes: Die vor dem Überfall auf Polen in Nordhessen stationierten aktiven Truppenteile brechen am 21. August Richtung Osten auf – und rücken bereits am 23. Oktober 1939 „nach Polenfeldzug und viertägigem Marsch“ wieder in ihre Kasernen ein.  Es waren, so überliefert es das Garnisonslexikon „ca. 100.000 Menschen da, um den Truppen von Bettenhausen her einen herzlichen Empfang zu bereiten“.

Die Folgen sind bekannt: In einer einzigen Bombennacht (22./23. Oktober 1943)  fanden mindestens 7.000 Kassler den Tod, das historische Kassel wurde ausgelöscht. Im Umland entstanden über 100 Kinderverschickungslager, in die über 4.000 Kassler Schüler aus der zersörten Stadt evakuiert wurden.

79.375.281 Deutsche (und Österreicher) lebten laut Volkszählung im Mai 1939  im Deutschen Reich (1933-1945). Zwischen 1939 bis 1945 wurden über 17 Millionen Männer ( ca. 22% der Gesamtbevölkerung) zur Wehrmacht eingezogen, 5.180.000 sind gefallen oder gelten als vermisst.

Auch in Nordhessen wird bis heute der Soldaten gedacht. Die zu Waldkappel gehörende Gemeinde Bischhausen hatte 1939 1064 Einwohner – die beiden  (im Bild zusammenmontierten) Gedenktafeln erinnern an 97 in einem sinnlosen Krieg gefallene oder vermisste Bischhäuser Männer.

bischhausen_nordhessen_1939-1945[/vc_column_text][vc_accordion][vc_accordion_tab title=“Vertriebenenmigration nach Nordhessen ab 1945″][vc_column_text]Vertriebenenmigration ab 1944

Einleitend: Selbstverständlich tragen die Deutschen die Schuld am 2. Weltkrieg. Aber auch die Vertreibung der Deutschen und Deutschstämmigen aus den ehemals deutschen Osgebieten (1945-1948) war ohne zweifel ein völkerrechtswidriges (Nach-) Kriegsverbrechen – das muss man 2015 scheiben dürfen, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. Zwischen 12-14 Millionen Deutsche verloren ihre Heimat und flohen (zunächst) in die sowjetische Besatzungszone, ab 1945 auch in die amerikanische und britische Besatzungszonen im Westen. 2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, vor allem Alte, Frauen und Kleinkinder, kamen auf der Flucht unter grauenhaften Umständen ums Leben. Vermutlich um die 2 Millionnen flüchtige Frauen wurden – vor allem von Angehörigen der roten Armee – vergewaltigt.

Die Vertreibung der Deutschen war definitiv keine „Umsiedlung“ (so die geschichtsverfälschende DDR-Bezeichung), die Vertriebenen kamen arm, hungrig und traumatisiert in ihnen fremden, wenn auch deutschen Landstrichen an. Die Städte lagen in Trümmern, eine „massenweise Ansiedlung“, gar die Gründung von Vertriebenengemeinden war unter Besatzungsrecht untersagt. Die Integration der „Flüchtlinge“, wie die Vertriebenen alsbald von ihren Mit-Deutschen abwertend genannt wurden, führte vielfach zu erheblichen Spannungen.

Viele Städte und Gemeinden der Region verzeichnen in den Nachkriegsjahren starke Bevölkerungszuwächse durch Flüchtlinge und Vertriebene. Lediglich das 1943 völlig ausgebombte Kassel hat seinen historischen Bevölkerungshöchstand (1939: 217.000 EW) nie wieder erreicht.

Einen Einblick in die letzen Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre Hessisch Lichtenaus, einer Kleinstadt im Westen des Werra-Meissner-Kreises, eröffnen Dieter Vaupels wertvolle Arbeiten zum „Außenkommando Hessisch Lichtenau des Konzentrationslagers Buchenwald 1944/1945“ (Kassel, 1984). Die in der Munitionsfabrik Fürstenhagen eingesetzten über 1.000 Zwangsarbeiter, darunter viele ungarische Jüdinnen, waren in Ausschwitz als „arbeitsfähig“ eingestuft, einstweilen dem Gas entgangen und der deutschen Rüstungswirtschaft unterstellt worden. In Hessisch-Lichtenau „wohnten“ sie neben dem sogenannten „Vereinshaus“, einem Barackenlager, in dem zuvor 700 französische Zwangsarbeiter gehaust hatten.

Nach der Befreiung im April 1945 diente das „Vereinshaus“ zunächst als Unterkunft für amerikanische Soldaten und polnische Zwangsarbeiter aus der Region.

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Im Frühjahr 1946 würde das „Vereinshaus“ zum Flüchtlingslager, was in Folge die Soziologie der Stadt komplett auf den Kopf stellte. In wenigen Jahren wuchs die Einwohnerzahl durch Vertriebene aus dem Sudetenland und Schlesien von um die 3.000 auf über 5.000. Die Zuwanderer, die nun in den ehemaligen KZ-Baracken („Nissenhütten“) hausten, waren nicht nur bettelarm und sprachen ein ganz anderes Deutsch als die Einheimischen – plötzlich war auch fast die Hälfte der Einwohner katholisch.

Aus dem größeren Kontex darf geschlossen werden, dass viele dieser Vertriebenen bis weit in die Nachkriegszeit auf eine Rückkehr in ihre eigentliche Heimat hofften. Man wagt es kaum zu schreiben, aber Vertriebene haben (auch heute!) wohl ein ganz eigenes Recht auf Trauer um ihre Heimat und auf die Hoffnung zurückzukehren. Mag das (wie am Beispiel der deutschen Vertriebenen) noch so unrealistisch sein – oder einer schnellen Integration im Wege stehen.

Die nach Hessisch Lichtenau Vertriebenen fanden in den Folgejahren und Jahrzehnten schließlich westlich der B7 doch eine „neue Heimat“. An ihre Herkunft erinnern Sudeten-, Schlesier-, Egerland und Pommernstraße, die von Königsberger- und Stettinger Straße gekreuzt werden. Auch die einzige katholische Kirche Hessisch Lichtenaus liegt inmitten dieser Neubausiedlung. An den in solchen Siedlungen merkwürdig häufigen Fahnenmasten werden bis heute, das kann der Verfasser bezeugen (und wird auch ein aktuelles Foto nachliefern), statt der üblichen Vereinsfahnen von Bayern, BVB und HSV gelegentlich (vermutlich zu Gedenktagen) noch landsmannschaftliche Fahnen gehisst.

Im Kontext aktueller Identitätsforschung sei darauf verwiesen, dass die hier ausgeführte Herkundt und landsmannschaftliche Orientierung großer Bevölkerungsteile bis weit in die Nachkriegszeit als bedeutendes, mit einer kolletkiven Identität als „Nordhesse“ sogar konkurrierendes Identitätsangebot betrachtet werden muss.

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